„Damned!“ entfuhr es Jerry Smith, als er entdeckte, dass er verschlafen hatte. Seine Reisegruppe musste längst zur Sightseeing-Tour unterwegs sein. Wenn er wenigstens wüsste, wo er war! Seit über zwei Wochen Romantic-Europe-Tour und die Zimmer glichen sich wie ein Ei dem anderen – Lissabon, Barcelona, Rom ... selbst die Bibel auf den Nachttischen unterschied sich nicht: Immer wieder „The Holy Bible“. Auch der Blick aus dem Fenster half ihm nicht weiter: ein großer Platz mit Parkbänken und Springbrunnen, darum herum Autos, Straßenbahnen, Busse, Abgase, Hupkonzert. Weiter hinten die nebelverhangene Kulisse eines Hochhauses. Er bekam fast ein bisschen Heimweh!
Auch der Frühstücksraum half ihm nicht, seinen europäischen Standort zu lokalisieren: ihm gegenüber sechs Japaner. Japan stand nicht auf der Reiseroute – dessen war er sich sicher. Daneben saß ein Ehepaar, das sich Porridge bestellte. Schon London?Unmöglich, dann müssten sie Brüssel und Paris ausgelassen haben! Die Frühstückskarte war viersprachig und somit ebenfalls unergiebig. An der Wand hing eine Großaufnahme des Nobelinstitutes. Stockholm? Aber nein, sie waren ja noch nicht einmal in Swizzerland, Munich oder Francfort! Die Kellner unterhielten sich auf italienisch oder spanisch. Oh no! Der Flamenco-Abend in Madrid war ihm unvergesslich, und in Venedig war ihm der Photoapparat ins Wasser gefallen. Das war vor einer Woche!
Mit seinem amerikanisch durchbrochenen Deutsch – der einzigen europäischen Sprache, die ihm ein bisschen geläufig war – hätte er ja die junge Dame am Empfang fragen können: „Excuse me, in welchem Country bin ich? In welcher Town?“ Doch dann stellte er sich vor, wie sie ihm ironisch lächelnd antwortete: „You’re in France, Paris, and your name is Jerry Smith!“ Er verwarf den Gedanken.
„Oh, good old Europe!“ sagte er schließlich und verließ das Hotel mit dem Entschluss, das Land, die Stadt und eventuell seine Reisegruppe selbst zu entdecken.
Er überquerte die breite Verkehrsstraße: links die Hochhausfassade, schräg gegenüber ein amerikanisches Fast-Food-Restaurant, wie er es in Rom, Valencia und Athen bereits gesehen hatte. Dann entdeckte er ein Straßenschild: „Bismarckplatz“. „Oh yeah! Austria! Good old Austria!“ Er musste lachen – hatten sie davon nicht erst gestern gesprochen?Das konnte also nur Wien sein. Er würde nur noch nach der ‚main road’ fragen, die Stephan’s Cathedral würde er von alleine finden. Und seine Gruppe war womöglich auch noch in der Nähe.
Die main road war Fußgängerzone. Wie in Barcelona, Marseille, Milano und überall. Nur schmaler war sie. In Europa war sowieso alles kleiner. „That’s typically“, dachte er, machte zwei Aufnahmen, notierte die Nummern und „Main road Vienna – very romantic“. Eingebettet in amerikanisches – deutsches – japanischens – französisches – und so weiter Stimmengewirr glitten seine Blicke über die Schaufenster: italienische Schuhgeschäfte, französische Parfumerien, schweizer Präzisionsgeräte, dänische Möbel, griechische, italienische, jugoslawische Restaurants, Filmplakate, die er in den letzten Wochen all over Europe schon gesehen hatte.
Kuckucksuhren! Wonderful!
Bald müsste die Stephan’s Cathedral kommen.
Sie kam nicht. Auch kein Wegweiser. Hatte er sich verlaufen?
Ein anderes Hinweisschild fiel ihm dafür immer wieder auf: „Castle“. „Why not“, sagte er sich, dafür war er ja in Europa! Er ließ sich über Treppen und immer kleiner werdende Straßen leiten. Bald sah er die Stadt zu seinen Füßen: enge Gassen, kleine Häuser, ein Fluss, gegenüber aufstrebende Hügel. „Beautiful! Typical!“ Er machte eine Aufnahme und notierte stolz „Nr. 11, Vienna, Danube“.
Noch einmal genoss er den Anblick, dann ging er weiter und stand alsbald vor einer Schlossruine, die sein Herz höher schlagen ließ. „Good old Austria!“ wiederholte er begeistert und machte sich auf Photo- und Entdeckungsreise.
Als er sich dabei zufällig einer Touristengruppe näherte, hörte er die letzten Worte der jungen, blonden Fremdenführerin: „... spannt sich die berühmte Alte Brücke über den Neckar. Eines der bekanntesten Wahrzeichen Heidelbergs, dieser Stadt, die wie keine andere ihren unvergleichlich individuellen Charakter bis heute erhalten hat.“
„Oh“, wandte er sich voller Enthusiasmus und mit breitem Lächeln an die junge Dame: „And you’re eine unvergleischlisch schoine, blonde Heidelberg Student-Frollein!“
Schade, dass er nicht verstand, was sie ihm in ihrer Muttersprache antwortete, sonst hätte er unter das nächste Photo schreiben können „finnische Germanistik-Studentin als deutsche Fremdenführerin“.
Dennoch war Jerry Smith glücklich: Immerhin war er binnen weniger Stunden halb Europa begegnet und wusste nun sogar, in welcher Stadt er sich befand.
Auch mit dem Land war er sich fast sicher.